Peter Kurzeck – kleine Biografie von Otfrid Ehrismann

1943: Geburt am 10. Juni im böhmischen Tachau (heute Tachov in Tschechien), Region Pilsen/Plzeň.
1946: Flucht mit seiner Mutter und seiner älteren Schwester.

„Kriegskind-Sorgenkind, [...] Bomben, Hunger, Feindesland, Flüchtlingslager, drei Tage und vier Nächte in schlingernden Viehwaggons, drei Wochen bevor ich drei wurde (kein Stroh auf dem Fußboden, zugige Schiebetüren, Zug fährt-steht-fährt, Keiner wusste wohin; Tage und Nächte schleppen sich hinfällig wie Gespenster vorbei; Sterbende, die auf ihrer Odyssee durch Zeit und Agonie bis zum letzten Atemzug (röchelnd) ihr armseliges letztes Bündel nicht aus Händen, Augen und Gedanken lassen, Fieber, Delirien und wieder Hunger, Lagerarmut.“ (Der Nussbaum, S. 207)

Die Flucht endet in dem oberhessischen Städtchen Staufenberg, dort wohnt Kurzeck bis in die ausgehenden siebziger Jahre. Er hat das Städtchen zum topografischen Referenzpunkt der meisten seiner Romane gemacht und dabei sein Schicksal als Flüchtling niemals vergessen:

„Es sind die Bauern von 1948 und von 1950, die nicht aufhören, auf mich einzureden.“ (Ein Kirschkern im März, S. 33)

„Aufgewachsen in einem Dorf, in dem die Menschen, die Einwohner eh und je mit Fremden nicht reden konnten. Dort auch fremd. Aus Böhmen. Das bleibt.“ (Als Gast, S. 64)
„Wenn man aus Böhmen ist und Böhmen sehr früh verlassen hat, dann ist man für alle Zeiten dorthin unterwegs.“ (Ludvík Vakulík, S. 6)

Er gibt vor zu schreiben und zu publizieren, seit er zwölf Jahre alt ist:

„ab und zu Geschichten für die beiden unabhängigen Giessener Tageszeitungen und sie nahmen und druckten und bezahlten sie sogar, auch manchmal Bilder, die ich malte. Zahlten gut.“ (Der Nussbaum, S. 204)

Mit 14 Jahren verlässt er das Gießener Herder-Gymnasium:

„Damals blieb ich alle paar Wochen [...] von der alten Saupenne weg, um in Ruhe nachdenken zu können: Notwehr! [...] ‚Herdergymnasium‘, je länger ich wegblieb, umso schwerer fiel mir die Vorstellung, je wieder hingehn zu sollen – schließlich schien es mir ganz und gar unmöglich.“ (Der Nussbaum, S. 201f.)

Zeit seines Lebens ist Kurzeck ein starker Raucher und Kaffeetrinker, stets offenbar von einer inneren Unruhe getrieben: „Es zieht dich, du weißt nicht wohin!“ (Kein Frühling, S. 311). Seine beiden CDs Mein wildes Herz legen davon ein beredtes Zeugnis ab.

Seit 1971, als er sich nach zehn Jahren entschlossen hat, sein ungeliebtes Leben als Personalchef eines Betriebs der US-Army in Gießen (s. Nr. 4) aufzugeben und Schriftsteller zu werden, hält er sich an verschiedenen Orten auf; darunter auch ein kurzzeitiger Gefängnisaufenthalt in Hamburg (s. Der Nussbaum, S. 5). Politisch neigt er der linken (nicht-militanten) Szene zu.

1977 wird er in Frankfurt am Main, wo er mehrere Male umziehen muss, mit Sybille Wächter im Bockenheimer Studentenviertel (Jordanstraße) sesshaft.

Bis in den März 1979 ist Kurzeck schwerer Alkoholiker. Schon mit 16 Jahren fängt er mit dem Trinken an:

„[...] zum erstenmal in meinem Leben fing ich zu trinken an – ich war sechzehn, kein Herbst hatte mich je so tief in Melancholie und Verzweiflung gestürzt, kein Winter war mir je so lang geworden.“ (Der Nussbaum, S. 289)

In seinen Texten thematisiert er seine Sucht vielfach und in ehrlicher Selbstbeobachtung, namentlich im Schwarzen Buch. Sie beherrscht ihn und entfremdet ihn von sich selbst:

„Die Wahrheit, das bin doch ich: ein seltsames Instrument auf dem die Trunkenheit spielt und spielt. Und kann gar nicht aufhören zu agieren.“ (Das schwarze Buch, S. 231)

„Morgen wieder zu Tode erschöpft, muss er sich als erstes zielbewusst seinen Kater wegsaufen, eisern (nie keinen Kater gehabt). Bis er dann einen klaren Kopf hat, schon wieder halbwegs blau, wird es wie gewohnt schon auf Mittag gehen. Kommt eine Zeit, bist du müde der Welt. Soll er ein Leben lang weiter so, wer bin ich denn eigentlich [...].“ (Das schwarze Buch, S. 90)

„Jetzt im Suff wenigstens kann er die Zeit anhalten, auch beliebig vor und zurück, Auferstehungen: er verdoppelt sich, Jesus Christus, geht besessen redend, mit Vorsätzen und Gedanken fuchtelnd neben sich her, wer bin ich denn?“ (Das schwarze Buch, S. 305)

„Zehn Jahre Suff und Straßen, wo ist der Tag denn hin? Zehn Jahre und noch zehn Jahre.“ (Das schwarze Buch, S. 337)

1979: Der Verleger Unseld lehnt für den Suhrkamp-Verlag das Manuskript des ersten Romans Der Nussbaum in dem du dein Brot kaufst ab; seither ist Kurzeck Autor von Stroemfeld/Roter Stern.

Um die Jahreswende 1983/84, an einem kritischen Wendepunkt seines Lebens, trennt sich seine Lebensgefährtin Sibylle von ihm. Diese Krise bildet den chronologischen Referenzpunkt seines monumentalen Roman-Projekts Das alte Jahrhundert, das er 1991 beginnt.

„Kurz nach der Trennung. Die zweite Woche nach der neuen Zeitrechnung und vorerst noch fassungslos! Noch keine Wörter dafür! Aber konnte auch von nichts anderem sprechen, also doch von der Trennung!“ (Als Gast, S. 417)

1984: Kurzeck verliert seine Halbtagsstelle in einem Frankfurter Antiquariat, die ihm ein halbwegs gesichertes Einkommen garantiert hatte. Kurze Zeit lebt er in einer kleinen Abstellkammer, später in einer komfortableren Dachwohnung bei einem befreundeten Paar.

1993 bezieht Kurzeck einen zweiten Wohnsitz in der kleinen Gemeinde Uzès, in der Nähe von Nîmes, von wo aus er, jetzt vor allem auf Vortragsreisen unterwegs, immer wieder längere Zeit nach Deutschland zurückkehrt.

2013: Peter Kurzeck stirbt 70-jährig am 25. November im St- Katharinen-Krankenhaus Frankfurt. Er ist auf dem Frankfurter Hauptfriedhof begraben.

Stadtarchiv Staufenberg - Flüchtlingsausweis
                       Deckblatt

Literatur:

  • Jörg Magenau, 2014: Peter Kurzeck, in: Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (online: zuletzt 02.03.2016)
  • Manfred Papst, 2013: Erzählen und Erinnern. Einige Bemerkungen zu Peter Kurzeck, in: Erika Schmied (Hrsg.), 2013: Peter Kurzeck. Der radikale Biograph, Frankfurt a. M., Basel, S. 7-13
  • Erika Schmied (Hrsg.), 2013: Peter Kurzeck. Der radikale Biograph, Frankfurt a. M., Basel